Freiheit vs Verantwortung, warum das eine ohne das andere nicht geht

Ohne großes Murren geschah vor ein paar Wochen das Undenkbare: Deutschland verordnete sich den lockdown und shutdown.

Als ich im Januar in Berichten aus Wuhan sah, wie die chinesische Regierung eine ganze Region abriegelte, dachte ich, das wäre in Europa, in Deutschland nie möglich. Am 20.02.  wollten wir nach Italien reisen, die Koffer standen schon gepackt im Flur, da kam die Nachricht übers Handy: Italien riegelt in der Lombardei zwei Regionen ab. Das Undenkbare war geschehen. Ausgangsbeschränkungen erst in Italien. Die Koffer wurden wieder ausgepackt, wir blieben zuhause.

Und in schnellen Schritten erreichten die Einschränkungen auch uns und mehr oder weniger schnell und intensiv den Rest Europas.  Das Leben, wie wir es kannten, stand still. Das ist erst 6 Wochen her. Und jetzt mehren sich die Stimmen, die Maßnahmen zu lockern. Ich halte diese Diskussion für richtig und wichtig, und gleichzeitig gilt es, verschiedene Aspekte gegeneinander abzuwägen.

Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“

Grundgesetz, Artikel 2, Abs. 2

Menschen gehen auf die Straße und demonstrieren für ihre Freiheitsrechte. Ja, unsere Freiheit ist eine unserer wertvollsten Errungenschaften. Aber was bedeutet Freiheit? Die Freiheit des Denkens, der Meinungsäußerung, der Lebensgestaltung? So steht es im Grundgesetz.
Pressefreiheit und freie Meinungsäußerung (Artikel 5 im Grundgesetz) sind ebenso Grundpfeiler unserer Gesellschaft wie Religionsfreiheit (Artikel 4) und das Recht auf eine freie Persönlichkeitsentfaltung, sofern es nicht andere beeinträchtigt (Artikel 2, Abs. 1).

Nun sind wir mitten im Dilemma: In einem einzigen Artikel steht das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, und das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Wie wir zur Zeit erleben, ist beides gleichzeitig manchmal nicht möglich.

Wir leben in einer Gemeinschaft, eigentlich in ganz vielen verschiedenen: Wir sind Europäer, Deutsche, leben in unserer Kommune, unserer Straße, unserer Familie, haben Arbeitskolleg*innen und Freund*innen. Wir sind Menschen und somit soziale Wesen. Und deshalb ist für mich Freiheit immer an einen anderen Begriff gekoppelt: die Verantwortung. Es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung. Freiheit kann es nur in sozialen Kontexten geben, und in Gemeinschaften gibt es Verantwortung.

Die Corona-Krise hat etwas geschafft, was keine Krise vorher geschafft hat: Sie stellt unser Lebensmodell, unsere Vorstellung von Freiheit und Wohlstand in Frage. Will ich in eine Freiheit zurück, in der alles für alle jederzeit zur Verfügung steht? Ein Leben „all inclusive“? 24/7? In der Kreuzfahrtschiffe wie Kleinstädte über die Meere schippern? SUVs, die für nahezu jeden Geldbeutel im 2-3 Jahres-Rhythmus ausgetauscht werden können? In der ein Handy nutzlos wird, weil die Akkuleistung ihre voreingestellte Lebensdauer erreicht hat? Wohlstand ohne Obergrenze?

Wie wollen wir in Zukunft leben? Wie will ich leben?

Mir über diese Frage Gedanken machen zu können, empfinde ich als Freiheit. Mir darüber Gedanken machen zu müssen, als meine ganz persönliche Verantwortung.

Wie soll meine Gesellschaft in Zukunft aussehen? Soll es ein Zurück ins Vorher geben? Wenn das überhaupt möglich wäre. Sozusagen ein Vorwärts in die Vergangenheit. Ich glaube – und ich hoffe – dass es nicht geht, einfach die Zeit zurück zu drehen. Es sind nicht immer „die Anderen“, die verantwortlich sind und unsere Gesellschaft gestalten. Nicht nur die Politiker und dicken Bosse. Wir selbst sind es, die durch unser Verhalten Einfluss nehmen auf unsere Umwelt und unser Zusammenleben.

Wir haben in dieser besonderen Krise gezeigt, dass wir als Gesellschaft noch Werte haben, die jenseits der individuellen Selbstoptimierung liegen. Dass wir eine funktionierende Gemeinschaft sein können. Eine Gemeinschaft, die sich um ihre Mitmenschen kümmert. Wir haben gezeigt, und tun es noch, dass wir in der Lage sind, unsere eigenen Interessen und Freiheiten zurückzustellen für eine Sache, die wichtiger ist, nämlich die Gesundheit und das Leben anderer Menschen. Das beeindruckt mich! Lasst uns diese Kraft, die uns das als Gesellschaft gibt, in die Zukunft hinüberretten. Wir erleben wie selten zuvor, dass unser eigenes Handeln direkte Konsequenzen hat. Wir lernen gerade: Mein Verhalten hat eine Wirkung. Ich kann Abstand halten, ich kann eine Maske tragen und dadurch andere schützen. Selbst wenn irgendwer in ein paar Monaten herausfindet, dass es doch nicht schützt, so what! Was verschenken wir uns damit, vorsichtig zu sein? Wenn möglichst viele verantwortungsvoll handeln, werden wir schneller unsere gewohnten Freiheiten zurückerlangen.

Und ich hoffe, dass wir dann sensibilisiert sind für die Fragen: Wie viel Freiheit brauche ich heute? Und wie viel Verantwortung bin ich bereit zu tragen? Wie viel muss ich heute übernehmen durch mein Handeln? Welche Konsequenzen hat mein Handeln für meine Mitmenschen, meine Umgebung, die Umwelt?

Wir kommen um diese Fragen nicht herum. Wir haben in den letzten Wochen gezeigt, dass wir in der Lage sind, verantwortungsvoll zu handeln. Und wir könnten so viel für unsere Zukunft und die unserer Kinder und Enkel tun, wenn wir uns diese Fragen in Zukunft immer wieder stellen würden. Bei allem, was wir tun. Bei der Gestaltung unserer Freiheit, unserem höchsten Gut.

Wir sind ein reiches, freies und soziales Land. Wir können uns die Freiheit nehmen, eine Gesellschaft zu sein, diese zu gestalten und uns um andere zu kümmern.
Was für eine Chance!

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